Der »Tag der Befreiung« als Diversity-Event

Wie die Oldenburger Kulturszene gedenken will und dabei sich selbst feiert

Die staatlich finanzierte Kulturszene Oldenburgs veranstaltete am 8. und 9. Mai „Glänzende Aktionstage der VIELEN“, um damit „den 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus“ zu feiern. Wenig verwunderlich handelt es sich dabei um ein Spektakel, das weniger die Befreiung vom Nationalsozialismus feiert, sondern in erster Linie das wiedergutgewordene, »vielfältige« Deutschland. So heißt es folgerichtig in der Ankündigung der Kulturetage ganz im Sinne Weizsäckers, man feiere die „Befreiung Deutschlands“. Diese äußerte sich jedoch für die deutsche Volksgemeinschaft, also die Mehrheit der Deutschen, als Niederlage. Nicht die »Rettung« Deutschlands vor dem Nationalsozialismus gilt es deshalb am 8. Mai zu feiern, sondern die Befreiung der Opfer und Gegner des Nationalsozialismus vom Leid, das die Deutschen über sie und die Welt gebracht haben. Um diesem ein Ende zu setzen, gab es keinen anderen Weg als den militärischen Sieg über Deutschland.

An einer Erinnerung an den Nationalsozialismus, seine Opfer und deutsche Täterschaft zeigt die Initiative jedoch wenig Interesse. Es scheint als sei der 8. Mai lediglich ein Aufhänger für »irgendwas gegen Rechts«. Mit trashig-hipper Goldfolienästhetik wird im Jargon des postmodernen Identitätstheaters viel von »diverser Gesellschaft« und »vielfältigen Identitäten« geredet, aber wenig von der Ideologie des Nationalsozialismus und ihren gesellschaftlichen Ursachen. Durch die Kulturetage und Co. beworbene Programmbestandteile sind etwa eine „Glanzvolle Selfiestation“: „Wir möchten noch mehr Vielfalt und klare Haltung zeigen. Kommt zu unserer goldenen Fotowand und teilt eure Statements und Selfies (…) Damit allen klar ist: Nie wieder!“ Statt sich mit Opas und Omas Verbrechen während der NS-Zeit auseinanderzusetzen, kann man also auch einfach hippe Selfies mit Wohlfühlmessage machen: Hashtag #niewieder – ganz im Sinne einer narzisstischen Selbstbeweihräucherung, deren Züge auch das Gedenken des wiedergutgewordenen Deutschlands trägt. „Nie wieder“ was genau? fragt man sich da nur.

Weiterhin auf dem Programm steht das Singen einer bestenfalls als peinlich zu bezeichnenden „Neuversion“ der Europahymne im »Diversity« Jargon, in der jegliche Nationalstaaten als „von gestern“ betitelt werden. Kein Gedanke wird darauf verschwendet, dass die Notwendigkeit eines jüdischen Nationalstaats bestimmt nicht »von gestern« ist; vermutlich musste schon zu viel anderes »mitgedacht« werden. Eine Lesung soll „vielschichtige Blicke auf das Thema Freiheit und Frei.Sein“ präsentieren, wobei man sich fragt, was eine Autorin wie Juli Zeh mit der Befreiung der Welt von der deutschen Barbarei zu tun haben soll.

»Highlight« der Aktion ist ein Live-Stream, der „gemeinsam mit allen Vielen“ auf Youtube unter dem Titel „NIE WIEDER – GLÄNZENDER STREAM NORDWEST“ angeboten wird. In der Beschreibung ist im besten Nazisprech von der besonderen Verantwortung der „Kulturschaffenden“1 die Rede, welche ausschließlich als Opfer des NS und nicht etwa auch als Unterstützer, Profiteure und Täter dargestellt werden.2 Moderatorin Aisha Abo-Mostafa vom Oldenburger Staatstheater macht deutlich, worum es der Initiative beim Gedenken an den 8. Mai geht: „Endlich konnte Deutschland sich neu erfinden, als freiheitlich demokratischer Staat. Endlich konnten wir beginnen, alle unsere Nachbarn und Mitbürgerinnen gleichermaßen zu achten, zu schätzen und zu lieben.“ Nicht zu übersehen ist, dass es dabei vor allem ums deutsche Kollektiv und seine Errettung geht, denn das Individuum hätte sich auch während des Nationalsozialismus nicht am Judenmord beteiligen müssen.

Wo Deutschland mit seiner »Vielfalt« im Zentrum steht, haben die konkreten, historischen Opfer offenbar keinen Platz, denn in den kompletten drei Stunden wird der Antisemitismus so gut wie überhaupt nicht thematisiert, geschweige denn ein Wort über seine zentrale Rolle für die deutsche Volksgemeinschaft verloren. Lediglich ein Besuch bei der Jüdischen Gemeinde Oldenburg ist drin, damit wirbt man „für mehr gegenseitiges Verständnis, für mehr Rücksicht und Respekt“: So werden Mitglieder und die Rabbinerin zu Inhalten ihrer Religion befragt. Natürlich spricht nichts dagegen, mit der Jüdischen Gemeinde über ihr religiöses Leben zu sprechen und zur Abwechslung mal mit anstatt über Juden zu reden. Wenn man jedoch gleichzeitig gänzlich ohne eine weitere Thematisierung des Antisemitismus auskommt, wie es im Stream der Fall ist, muss man dahinter ein Weltbild annehmen, das Antisemitismus allein durch deutsch-jüdische Begegnungen bekämpfen möchte. „Was müssen wir wissen, um mit ihrer Religion in Frieden zu leben?“ fragen die Interviewer zum Abschluss dreist naiv und reduzieren damit die beständige Bedrohung von Juden durch den Antisemitismus auf eine mangelnde Sensibilität und mangelndes Wissen gegenüber dem Judentum. Weder lässt sich jedoch der dem Antisemitismus inhärente Vernichtungsdrang durch Wissen über das Judentum aus der Welt schaffen, noch geht es dem Antisemiten lediglich um Religion, vielmehr imaginiert er die Juden zur „Gegenrasse“ (Horkheimer/Adorno) schlechthin. Vom Antisemitismus und seiner Bekämpfung möchte man bei den „Vielen“ aber offenbar weniger wissen, denn man hat ja das Allheilmittel »Diversität«.

Schnitt, weiter gehts mit Fridays for Future, die über „Konsum- und profitorientiertes Wirtschaften“ und die Folgen für das Klima reden und sich angesichts des 8. Mai eine „klimagerechte Zukunft, die frei von faschistischen, rassistischen, männerdominanten Strukturen ist“, wünschen. Antisemitismus kommt in der Aufzählung leider nicht vor, die genannte „Männerdominanz“ war hingegen nicht das Hauptproblem des Nationalsozialismus.3 Ist ja okay, sich mit Klimaschutz zu beschäftigen, den 8. Mai in einen solchen Kontext zu setzen offenbart aber eine mangelnde Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die Message am Ende: „Haltet euch an die Klimaziele, denn es ist mehr als Zeit“ ist schon ziemlich deplatziert.
Bernt Wach von der Kulturetage ist auch am Start, findet es wichtig, gemeinsam gegen rechte Tendenzen Stellung zu beziehen und betont einen politischen Anspruch von Kunst: „Wer auf der Bühne steht, hat auch eine Verantwortung.“ Wie er dies in Einklang bringt mit dem Auftritt der Antisemitin Lisa Fitz in seiner Kulturetage, der trotz Gegenprotesten nicht abgesagt wurde, bleibt dabei sein Geheimnis.
Eine Vertreterin der Evangelischen Kirche, die ebenfalls gerne mal mit antisemitischen Ausfällen glänzt, freut sich zum Ende hin: „Wir wissen nun auch, wie wir aus der Geschichte lernen können, ohne nur gesenkten Haupts durch die Gegend zu gehen.“ Na Gott sei Dank hat das geläuterte Deutschland nun gelernt, aus seinem Schuldbekenntnis einen Vorteil zu schlagen, dann steht der entspannten 8. Mai-Feierei eigentlich nichts mehr im Weg.
Wenig überraschend geht es in dem dreistündigen Stream also weniger um ein propagiertes „würdiges Gedenken“ an die historische Niederlage des Nationalsozialismus, die nur eine praktische historische Hintergrundfolie darstellt. Lediglich das Interview mit dem Historiker Ingo Harms ist lohnenswert, der auf nationalsozialistische Kontinuitäten in der BRD verwies und als einer der wenigen überhaupt über das vorgebliche Thema sprach. Ansonsten verschwindet der spezifische Kontext des 8. Mai in einem Brei aus »Freiheit«, »Vielfalt«, »Offenheit«, postmodernem Antirassismus, Klimapolitik und was gerade in der staatstragenden Zivilgesellschaft so angesagt ist. Die konformistische Oldenburger Kulturszene, die sich selbst für gar so »alternativ« hält, stellt sich offenbar unter dem 8. Mai eine Art hippen »Diversity-Feiertag« vor und ist natürlich ganz vorne mit dabei, wenn es darum geht, dem wiedergutgewordenen Deutschland den Rücken zu stärken.

Dem mantra-artig wiederholten „Wir sind die Vielen“ möchte man deshalb mit Horkheimer entgegnen: „Das Wir ist die Brücke, das Schlechte, das den Nazismus möglich machte. Der Unterschied zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv wird eingeebnet, wer ihn bewahrt, steht draußen, gehört nicht zu ‚uns‘, ist wahrscheinlich ein Kommunist.“ (aus: Wir Nazis, Notizen 1929-1969.)

 


1 Dass es sich hierbei um einen NS Begriff handelt, ist bekannt: https://www.bpb.de/politik/grundfragen/sprache-und-polit

2 zu deutschen Künstlern und Kultur im NS siehe z.B.: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article156765756/Der-Deutschmueller-wird-Intendant-Ueberall.html

3 zu Täterinnen siehe: Ljiljana Radonić: Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie über Geschlechterverhältnis und Antisemitismus, 2004.